Bildungsgerechtigkeit fängt mit Diagnose an

Lesezeit: 6 Minuten

Die durch das Coronavirus ausgelöste Situation hat gravierende Versäumnisse im deutschen Bildungssystem aufgezeigt. Hierbei geht es nicht nur um den Bereich der digitalen Bildung, sondern auch um das Langzeitproblem, gleiche Bildungschancen für alle Lernenden zu gewährleisten. Interessant hierbei ist, dass diese beiden Bereiche gegenseitig miteinander korrelieren könnten.

Aktuell wird in den Medien viel darüber berichtet, dass durch das Homeschooling die Bildungschancen vieler Lernender verhindert werden und die Rückkehr zum Präsenzunterricht die einzige Lösung wäre, um dem entgegenzuwirken. Die Unterschiedlichkeit der Bildungschancen für Lernende sind ein Problem, das bereits vor der aktuellen Situation bestand und in vielen internationalen Studien [Bsp. OECD] angemerkt wurden. Das Homeschooling hat diesen Effekt lediglich verstärkt, weil zu wenig im Bereich der digitalen Bildung unternommen worden ist. Jetzt wird vielerorts Verbesserung versprochen und Schulen sollen digital besser ausgestattet werden.

Wichtig hierbei ist, dass nicht so weitergemacht werden kann, wie bisher, sondern, dass die Möglichkeiten, die sich durch die Digitalisierung ergeben, endlich genutzt werden, unterschiedliche Lernpräferenzen gerecht zu werden, um folglich mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen. Ein einfach durchführbares Verfahren zur Diagnose unterschiedlicher Lerninteressen wird nachfolgend erläutert. Konkret geht es um das empirisch bestätigte Lernstilmodell von David Kolb aus dem Jahr 1984.

Die vier Phasen des Lernprozesses

David Kolb entwickelte auf Grundlage seiner Theorie des experimental learning [Lernstilinventars] einen Test für sein Lernstilmodell (vgl. Hamann, K. (2012). Lerntypen, Lernstile, Lerntheorien. 1. Aufl., S. 2, S. 11-16, S.47, Akademiker Verlag). Der Test geht von vier Lernstilen aus, abgeleitet von den vier Phasen des Lernprozesses und fragt nach der Art und Weise des Lernens. Konkret, in welchen Lernsituationen man sich wohl bzw. unwohl fühlt. In vier Kategorien werden jeweils zehn Fragen gestellt, welche durch Ankreuzen der entsprechenden Situation, die der jeweiligen Person am ehesten entspricht, beantwortet, um letztendlich den individuellen Lernstil zu bestimmen, siehe Abbildung 1 (Pietrusky, S. (2020): Gestaltung einer integrierten Lernumgebung zur Förderung der Problemlösekompetenz im Physikunterricht eine Design-Based-Research-Studie, S. 42-46, Universität Koblenz-Landau, Campus Landau.)

(Abbildung 1: Lernstile und Lerntypen nach Kolb, Quelle: Hamann, 2012, S. 19, eigene Darstellung)

So ergibt sich die Basis für Beobachtungen und Reflexionen durch unmittelbare konkrete Erfahrungen. Die Beobachtungen bilden die Grundlage für die Entwicklung von Theorien. Es werden Folgerungen aus den Theorien abgeleitet, die in neuen Situationen geprüft und letztendlich die Basis für neue konkrete Erfahrungen liefern (vgl. Pietrusky). Durch die Punkteverteilung der vorhandenen Skala ergibt sich die Summe der jeweiligen Kategorien. Die Summen aller vier Kategorien bilden die Grundlage für die Auswertung des Tests und einen bestimmten Lernstil. Ein hoher Wert in der Kategorie KE [konkrete Erfahrung] deutet auf ein Lernen aus Erfahrung hin. Effektiv sind Lerninhalte hier, wenn diese mit konkreten Situationen verknüpft werden. Die Lernsituation ist für den Lernenden hierbei sinnvoll, wenn er eigene Erfahrungen mitteilen kann. Wenn ein hoher Wert in der Kategorie RB [reflektierte Beobachtung] vorliegt, bedeutet dies, dass der Lernende Sachverhalte und Situationen sorgfältig beobachtet und sich mit Äußerungen der eigenen Meinung eher zurückhält und sich abwartend und distanziert verhält (vgl. Siebert, H. (2009). Selbstgesteuertes Lernen und Lernberatung. Konstruktivistische Perspektive. 3. Aufl., S.69-74, Augsburg, ZIEL Verlag). Hat die Kategorie AB [abstrakte Begriffsbildung] einen hohen Wert steht beim Lernenden ein theoretischer, systematischer Zugang zur Wirklichkeit im Vordergrund. Hierbei sollte dann vermehrt auf wissenschaftliche Lektüre zurückgegriffen werden (vgl. Siebert). Falls sich ein hoher Wert in der Kategorie AE [aktives Experimentieren] abzeichnet, sollten Lernaufgaben mit einem hohen praktischen Anteil zum Einsatz kommen. Der Lernende bevorzugt hierbei das Lernen durch Versuch und Irrtum bzw. handlungsorientiertes Lernen (vgl. Pietrusky).

Die Berücksichtigung von Lernstiltypen beim Lernen

Ein Lernstil ist, je nach Art der vorliegenden Aufgabe bzw. vorliegendem Kontext, mal mehr oder mal weniger geeignet. Wichtig ist zu wissen, dass es keinen Lernstil gibt, der generell den anderen unterlegen ist (vgl. Siebert). Da sich Lerninteressen mit der Zeit ändern, ist auch das Ergebnis der Lernstilanalyse eine Momentaufnahme, folglich ist eine wiederholte Diagnose erforderlich. David Kolb hat aus diesem Grund die vier Lernstile zu Persönlichkeitstypen zusammengefasst. Die Summen der vier bereits genannten Kategorien werden für die Ermittlung des Lernstiltyps benötigt (vgl. Pietrusky). Die Summe der Kategorie AE [aktives Experimentieren] wird mit der Summe der Kategorie RB [reflektierende Beobachtung] subtrahiert. Die Summe der Kategorie AB [abstrakte Begriffsbildung] wird mit der Summe der Kategorie KE [konkrete Erfahrung] subtrahiert. Die beiden Werte werden in ein Koordinatensystem eingetragen, siehe Abbildung 2 (vgl. Pietrusky).

Abbildung 2: Lernstiltypen Koordinatensystem nach Kolb, Quelle Haller, eigene Darstellung

Die Bezeichnung AE – RB und AB – KE sind als horizontale bzw. vertikale Achse festgelegt. Die Bezeichnung der Lernstiltypen von Kolb (Divergierer, Assimilierer, Konvergierer und Akkomodierer) bilden die vier Felder des Koordinatensystems. Bei der Subtraktion der Summen der Kategorien können sich negative Vorzeichen ergeben, die es beim Übertragen in das System berücksichtigt werden müssen. Wenn die beiden Werte berechnet wurden, werden diese eingetragen und rechtwinklig zueinander verbunden. Je weiter der Wert in einem Feld liegt, desto stärker ist der jeweilige Lernstiltyp beim Lernenden ausgeprägt. Ein ausgeglichener Lernstil liegt vor, wenn beide Werte bei 0 liegen. Der Lernende verfügt dann über Anteile von allen vier Lernstiltypen. Wenn nur einer der Werte bei 0 liegt, deutet es auf einen Mischtyp aus zwei Lernstiltypen hin (vgl. Pietrusky).

Kolb unterscheidet folgende Lernstiltypen:

  • Akkomodierer [Macher]: Sie haben die Bereitschaft, sich offen auf neue Situationen einzulassen. Ihre Stärken sind die Experimentierfreude und ihre Neugier. Sie neigen zu Problemlösungen durch Versuch und Irrtum. Sie befassen sich lieber mit Personen als mit Dingen.
  • Assimilierer [Denker]: Reflektierendes Beobachten und abstrakte Begriffsbildung werden bevorzugt. Das Lernen mit theoretischen Modellen und das Integrieren von Fakten zu Konzepten sind ihre Stärken. Sie befassen sich lieber mit Dingen als mit Personen.
  • Divergierer [Entdecker]: Hier werden konkrete Erfahrungen und reflektiertes Beobachten beim Lernen bevorzugt. In der Vorstellungsfähigkeit liegt ihre Stärke. Sie betrachten Situationen aus vielen Perspektiven. Sie befassen sich lieber mit Personen als mit Dingen.
  • Konvergierer [Entscheider]: Hier werden abstrakte Begriffsbildung und aktives Experimentieren bevorzugt. In der Ausführung von Ideen mit hypothetisch, deduktiven Schlussfolgerungen liegt ihre Stärke. Sie befassen sich lieber mit Dingen als mit Personen. [2]

Fazit

Das Lernstilmodell von David Kolb verdeutlicht anhand der vier Lernstiltypen wie sich Lernende hinsichtlich ihres Interesses an Dingen oder Personen unterscheiden können und entweder theoretische oder praktische Tätigkeiten innerhalb ihres Lernprozesses bevorzugen (Hamann). Die daraus gewonnen Erkenntnisse können Lehrende nutzen bei der Gestaltung von differenzierteren Lernsituationen und Lerngegenständen bzw. der Bildung von homogeneren Lerngruppen, um letztendlich mehr Bildungsgerechtigkeit zu gewährleisten. Wenn es nach der durch das Coronavirus bedingten Situation zu einer verstärkten Digitalisierung an den Schulen kommt, die sich aktuell abzeichnet und erforderlich ist, muss gleichzeitig auch mehr diagnostiziert werden, wie sich Lerngruppen insgesamt zusammensetzen, um die Vorteile, die sich daraus ergeben auch tatsächlich zu nutzen. Allen Lernenden einen Tablet-PC zur Verfügung stellen, wird nichts an der aktuellen bzw. vorherigen Situation im Bildungssystem in Deutschland ändern. Die Durchführung und Auswertung der Lernstilanalyse von David Kolb ist nicht kompliziert und kann problemlos von Lehrenden mit ihren Lerngruppen durchgeführt werden. Anbei folgen Vorlagen der Fragebögen des Koordinatensystems.

Literatur

1 Hamann, K. (2012). Lerntypen, Lernstile, Lerntheorien. 1. Aufl., S. 2, S. 11-16, S.47, Akademiker Verlag,

2 Pietrusky, S. (2020). Gestaltung einer integrierten Lernumgebung zur Förderung der Problemlösekompetenz im Physikunterricht eine Design-Based-Research-Studie, S. 42-46, Universität Koblenz-Landau, Campus Landau

3 Siebert, H. (2009). Selbstgesteuertes Lernen und Lernberatung. Konstruktivistische Perspektive. 3. Aufl., S.69-74, Augsburg, ZIEL Verlag

Haller, H.D & Nowack, I. (o. J.). Lernstildiagnose, Pädagogisches Seminar Göttingen

Zum Download

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